PATIENT – Selbstbestimmung versus Fremdbestimmung

Aus der Perspektive der Patienten-organisation

Kinder und Erwachsene mit seltenen Krankheiten haben keine Zeit zu verlieren!

Ein Interview mit Mirjam Mann

Mirjam Mann ist Geschäftsführerin der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) e.V. Die Dachorganisation von mittlerweile mehr als 130 Patientenorganisationen hat sich als die „Stimme der Seltenen“ etabliert und kann so viel für Menschen mit seltenen Erkrankungen bewirken. Die Expertin Mirjam Mann erläutert, wie sich das Gesundheitssystem und andere Bereiche des sozialen Lebens wie Schule, Arbeit, Leben, weitaus mehr an den Bedürfnissen der Betroffenen ausrichten sollten.

Die ACHSE fordert bessere Vernetzung auf allen Ebenen und leitet daraus drei Kernforderungen ab, die zurzeit Priorität haben:

  1. Mit der Digitalisierung vorankommen. Stichworte: funktionierende elektronische Patientenakte, nachhaltige Registerlandschaft, Telemedizin, Wissensmanagement.
  2. Es bedarf strukturierter Patientenpfade, die den optimalen Weg durch das Gesundheitswesen, d.h. die nächsten Schritte, die notwendigen Experten, etc., für Ärzte und für Patienten  transparent und recherchierbar beschreiben.
  3. MyCaseManager“, der persönliche Case Manager auf Rezept soll Patienten dabei unterstützen, die richtige Versorgung und Unterstützung, auf die sie Anspruch haben, auch tatsächlich zeitnah zu erhalten. Er leistet Hilfe bei der Antragsstellung, recherchiert die Möglichkeiten, unterstützt bei den bürokratischen Abläufen.

Durch den Nationalen Aktionsplan für Menschen mit seltenen Krankheiten (2013) hat sich bereits viel bewegt: Seit 2009 haben sich bundesweit an fast allen Universitätskliniken Zentren für seltene Erkrankungen (A-Zentren) etabliert. Mit ihren Spezialambulanzen (B-Zentren) bieten sie krankheitsspezifische Expertise und Versorgung, sind aber auch eine Anlaufstelle für Menschen mit noch ungeklärter Diagnose. Referenznetzwerke auf europäischer Ebene (ERN) tragen zum Wissensgewinn und zur Stärkung der grenzübergreifenden Zusammenarbeit bei. Trotz dieser Fortschritte stehen die Betroffenen und ihre Angehörigen immer wieder vor Herausforderungen: Betroffene irren auf der Suche nach der passenden Diagnose durch das System – auch nach der Diagnosestellung bleibt der Patient im Labyrinth des Gesundheitswesens gefangen. Die Fragen, wo er die richtige Behandlung erhält, wer sich wirklich mit der Erkrankung auskennt und welchen Anspruch der Patient und die Angehörigen auf Unterstützung haben, bleiben häufig unbeantwortet. Nach Meinung Vieler ist das Deutsche Gesundheitssystem für Patienten mit seltenen Krankheiten nicht optimal aufgestellt.

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Kernbotschaften

aus dem Interview mit
Mirjam Mann

Vernetzung auf allen Ebenen und zwischen den Disziplinen

Seltene Erkrankungen sind sehr komplizierte Erkrankungen, häufig mehrerer Organsysteme und meist unheilbar. Es braucht mehr Vernetzung auf allen Ebenen: zwischen Zentren, zwischen Niederlassung und Zentren, zwischen der deutschen Ärzteschaft und den internationalen Organisationen und Versorgungseinrichtungen und auch zwischen den Disziplinen. Es müssen strukturierte Patientenpfade entwickelt werden, es muss Case Manager geben, die dem Patienten durch das System helfen. Es braucht bessere Möglichkeiten, sich zu informieren. Das ist ein Thema, an das wir ranmüssen und wir müssen das Wissen generell besser festhalten, weil es über seltene Erkrankungen auch schlicht weniger Wissen gibt.

NAMSE als Keimzelle für die Versorgungsverbesserung seltener Krankheiten

Der große Erfolg von NAMSE ist, dass von dieser vernetzten Gemeinschaft Themen auf die Agenda gesetzt werden können, was im Bereich seltene Erkrankungen gemacht werden muss, was man beitragen kann und wie eine Art Wissensmanagement schon vor Ort gemacht werden kann. Dieses Engagement, sich als Zentrum zu verstehen und dafür Prozesse aufzusetzen, hat teilweise schon vor Gründung der NAMSE angefangen. Und daraus sind auch die Innovationsfonds-Projekte entstanden. Wir haben sehr gute Innovationsfonds-Projekte aufsetzen können, aus denen auch konkrete Verbesserungen entstanden sind. Die haben dann auch eine direkte Wirkung, und deshalb ist das ein großer Erfolg.

Innovationsfondsprojekte zur Diagnoseverbesserung

Insbesondere das Projekt „TRANSLATE NAMSE“ liegt zur Entscheidung beim G-BA, in dem unter anderem festgelegt wurde, wie man die Genomsequenzierung nutzen kann. Wie kann man einen guten Diagnosepfad für die komplexen Fälle haben, wenn das Gängige und Einfache schon abgeklopft ist? Wie kann man dann zur Diagnosestellung kommen? Dadurch sind enorme Verbesserungen in den Strukturen zustande gekommen, in den Absprachen, wie es läuft, in der Vernetzung.

Qualitätskriterien für Zentren für seltene Erkrankungen

Qualitätskriterien sind von extremer Bedeutung, weil sie ein Benchmark bieten. Wer darf sich „Zentrum für seltene Erkrankungen“ nennen? Wer darf sagen: „Ich bin darin Experte?“ In dem Bereich der Krebsversorgung gibt es da große Traditionen und sehr viel Erfahrung. Wir müssen etablierte Kommunikationskanäle haben und festlegen, wer den Hut auf hat, also die Hauptverantwortung trägt.
Das größte Thema für uns im Moment sind nicht so sehr die Zentren, die schon auf einem sehr guten Weg sind, sondern der Weg zum Zentrum. Denn der Hausarzt oder Facharzt muss dafür Sorge tragen, dass Patienten mit einer seltenen Erkrankung dann auch ins Zentrum kommen. Dafür braucht es Aufklärung.

ASV – gute Idee scheitert an der Umsetzung

Mit der ASV oder auch mit dem 116b (alt) waren enorme Hoffnungen verbunden, aber heute ist es ein bürokratisches Monster, das überhaupt nicht vorankommt. Die ASV hat das Potenzial für die richtige Lösung, aber die Konkretisierung der Erkrankungen geht so langsam voran, dass es sehr, sehr wenige Erkrankungen gibt, für die die ASV theoretisch möglich ist. Und noch schlimmer: Für die Erkrankungen, für die die ASV möglich ist, sind in ganz vielen Fällen gar keine Teams entstanden. Offenbar sind die tatsächlichen Rahmenbedingungen für die Ärzte nicht interessant oder für die Experten nicht die richtige Lösung. Deswegen fordern wir auch, dass schlicht alles abgerechnet werden kann, dass neue EBM-Ziffern für die Komplexität von seltenen Erkrankungen gemacht werden.

Ganzheitliche Betrachtung von seltenen Krankheiten unumgänglich

Jenseits der technischen Verbesserungen braucht es eine andere Haltung. Das Gesundheitswesen ist von der Denke her auf einen alles-wissenden Arzt eingerichtet, aber bei Menschen mit seltenen Erkrankungen brauchen wir ein Team von Wissen. Und das braucht auch nicht nur das ärztliche Wissen, das braucht auch das Wissen der Selbsthilfe, das braucht das Wissen der nicht-ärztlichen Berufsgruppen. Und das müssen wir alles viel besser miteinander verbinden. Wir müssen einander besser zuhören und wir müssen uns mehr füreinander interessieren und auch die ganze Erkrankung ganzheitlicher betrachten. Der Mensch ist nicht seine Erkrankung, sondern er will leben mit seiner Erkrankung. Wir müssen das ganzheitlicher betrachten, und das wünschen sich Betroffene.