PATIENT – Selbstbestimmung versus Fremdbestimmung

Aus der Perspektive der medizinischen Wissenschaft

Ärztliches Wissen beruht auf Erfahrung – seltene Krankheiten sind einmalige Herausforderungen

Ein Interview mit Prof. Dr. Andreas Meisel

Prof. Dr. Andreas Meisel ist klinisch und wissenschaftlich tätiger Neurologe, Hochschullehrer, Oberarzt an der Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie, Direktor des Zentrums für Schlaganfallforschung Berlin und Leiter des Integrierten Myasthenie-Zentrums an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Seine klinisch-wissenschaftlichen Schwerpunkte sind die autoimmunbedingten neuromuskulären Erkrankungen, vor allem die Myasthenia gravis. Ein weiterer Fokus liegt in der Verbesserung der Versorgungsstrukturen für Patienten mit o.g. Erkrankungen. Aus diesem Grund engagiert er sich auch in der Deutschen Myasthenie-Gesellschaft e.V. (DMG) und der Berliner Schlaganfall-Allianz e.V. (BSA).

„Wir sollten an den Universitätskliniken viel stärker die seltenen Erkrankungen in den Vordergrund stellen, weil uns auch diese Erkrankungen helfen, uns nicht nur in der Diagnostik weiterzuentwickeln und neue diagnostische Verfahren zu etablieren. Die helfen uns auch, die personalisierte Medizin weiterzuentwickeln.“

Seltene Erkrankungen sollten in Universitätskliniken und spezialisierten Zentren von entsprechend ausgebildeten Ärzten mit Erfahrung angeschaut und behandelt werden, Spezialisten, die mit anderen Spezialisten interdisziplinär zusammenarbeiten. Denn viele seltene Erkrankungen sind nicht nur einem Indikationsgebiet zuzuordnen. Die Patienten müssen auf diesem Weg in gegenseitigem Vertrauen und adäquatem Wissen über ihre Krankheit mitgenommen werden. Das Knowhow wird dann auf Seiten der Ärzte und auf Seiten der Patienten weiter wachsen.

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Kernbotschaften

aus dem Interview mit
Prof. Dr. Andreas Meisel

Zentren bündeln die Expertise zu seltenen Erkrankungen

In einem großen Universitätsklinikum wie der Charité gibt es zu den allermeisten Erkrankungen in den verschiedenen Disziplinen der Medizin Experten, die auch die seltenen Erkrankungen kennen. Das Ziel der Zentren ist es, die Expertise zu bündeln und die entsprechenden Untersuchungsverfahren vorzuhalten. Aber vor allen Dingen ist die Erfahrung mit diesen Erkrankungen wichtig. Gerade seltene Erkrankungen lassen sich nicht einfach einer Disziplin zuordnen, vielmehr setzen sie interdisziplinäre Arbeit voraus. Und es werden immer weiter neue Erkrankungen gefunden. Durch die Zusammenarbeit der Spezialisierungen gibt es Chancen, die Erkrankung dingfest zu machen, auch wenn wir ihren Namen oder ihre Ursache noch nicht kennen.

Späte Diagnose

Der Zeitpunkt der Diagnose hängt von zahlreichen Parametern ab, auch von der Seltenheit und der Präsentation der Erkrankung. Also wie gut wir sie in unser Musterdenken, unser Schubladendenken einordnen können. Viele der Patienten, die seltene Erkrankungen haben, haben einen Weg hinter sich, der Jahre gedauert hat.

Weiterentwicklung der personalisierten Medizin

An den Universitätskliniken sollten die seltenen Erkrankungen viel stärker in den Vordergrund gestellt werden, weil uns diese Erkrankungen dabei helfen, neue diagnostische Verfahren zu etablieren und die personalisierte Medizin weiterzuentwickeln. Singuläre oder seltene Erkrankungen benötigen eine Personalisierung der Therapie, und auch der Diagnostik. Eine solche Spezialisierung ist notwendig. Und dann benötigen wir Spezialisten auf der einen Seite, auf der anderen Seite müssen wir interdisziplinär zusammenarbeiten.

Patient im Mittelpunkt

Es wird eine Haltung benötigt, die die Patient:innen im Mittelpunkt sieht. Bin ich ein Arzt, der dem Patienten glaubt oder unterstelle ich, dass der Patient mir möglicherweise irgendetwas erzählt? Diese Art der Interaktion spüren Patienten – Empowerment braucht am Ende Vertrauen, Vertrauen von beiden Seiten. Der Patient muss die Krankheit, die er hat, verstehen, damit er sie auch vertreten kann, zum Beispiel gegenüber Ärzten.

Aufklärung des Patienten notwendig

Die allermeisten Patienten folgen dem ärztlichen Rat. Sie wollen allerdings verstehen, warum man einen bestimmten Rat gibt oder eine Entscheidung trifft. Heute muss mehr Zeit investiert werden, um Patienten über die Dinge, die getan werden sollen, sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie, hinreichend aufzuklären, damit der Patient auch wirklich versteht, worum es geht. Das gelingt allerdings eher bei einer chronischen Erkrankung als in einer Notfallsituation.

Diagnostik im Kontext der klinischen Beschwerden bewerten

Diagnostik zu machen, ist erst mal relativ einfach, aber sie kritisch zu bewerten im Kontext der klinischen Beschwerden, ist dann die eigentliche Aufgabe. Da muss man frühzeitig eine Entscheidung treffen, ob ein Patient an einem Zentrum für seltene Erkrankungen Zugang bekommen sollte, um dann die notwendigen Untersuchungen dort zu machen. In der Praxis wird aber durchaus Diagnostik doppelt gemacht, und sollte auch gemacht werden, wenn die bisherigen Befunde in der Form nicht valide zu sein scheinen. Da vertraut dann der Experte schon eher auf die Tests, die er kennt. Das kommt bei seltenen Erkrankungen schon mal häufiger vor.

Persönliche Expertise bei Diagnose und Therapieentscheidung gefragt

Es gibt die Möglichkeit, sich über die klinisch-wissenschaftlichen Datenbanken zu orientieren. In der Regel versucht man aber, jemanden zu finden, der einem hilft. Die zusatzdiagnostischen Verfahren können auch noch Hilfe geben, aber hier sollte man sich möglichst persönliche Expertise einholen, entweder vor Ort, national oder auch international. Und dann ist die Frage, ob man noch nicht weiß, um welche Krankheit es sich handelt oder ob man schon in eine bestimmte Richtung von Erkrankungen denkt. Wenn die Erkrankung gesichert ist, gibt es möglicherweise Fragen bei der Therapie. Manchmal wird versucht, dem Patienten mit einem Heilversuch zu helfen, für den man sich gerne die Unterstützung von Kollegen holt.

Register und klinische Studien

Zumindest bei den seltenen Erkrankungen muss eine Bereitschaft vorliegen, Daten vernünftig zu sammeln. Gut geführte Register sind eine Möglichkeit dazu. Sie benötigen allerdings eine Qualitätskontrolle jenseits aller datenschutzrechtlichen Diskussionen. Sie brauchen auch eine Weiterentwicklung – und die kann eben nur aus dem Feld heraus entstehen. Allerdings können sie klinische Studien, die ja zur Zulassung der Medikamente geführt haben, nicht ersetzen. Hier bietet sich der Basket Trial Ansatz an. Es sollte häufiger gelingen, nicht nur eine einzelne Erkrankung zu therapieren, sondern eine Erkrankungsgruppe, die gleiche pathophysiologische Signalkaskaden und Mechanismen hat.

Mehr zeitliche, finanzielle und personelle Ressourcen notwendig

Es werden bestimmte Orte benötigt, an denen seltene Erkrankungen von Professionellen angeschaut werden, und wo die Diagnostik und die Therapien gemacht werden. Dafür benötigt man entsprechende Rahmenbedingungen. Und das ist im DRG-Zeitalter mit den Fallpauschalen nicht hinreichend gut abgebildet, Es werden mehr Ressourcen benötigt, das sind personelle Ressourcen und vor allem zeitliche und finanzielle Ressourcen. Das Knowhow dazu wächst entsprechend. Seltene Erkrankungen in der Diagnostik, in der Therapie, im Umgang mit Patienten brauchen in der Regel einfach mehr Zeit und dafür werden entsprechend Ressourcen benötigt.