CARE – zwischen Anspruch und Realität

Aus der Perspektive der Krankenkasse

Anspruch und Realität der Regelversorgung von Patienten mit seltenen Krankheiten

Ein Interview mit Dr. Gerhard Schillinger

Dr. Gerhard Schillinger ist Facharzt für Neurochirurgie und Leiter des Stabs Medizin im AOK-Bundesverband. Dort beschäftigt er sich unter anderem mit der Entwicklung von Konzepten zur Versorgungsoptimierung, mit der Nutzenbewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden auf dem Boden der evidenzbasierten Medizin und mit Projekten zur Versorgung seltener Erkrankungen, zur Präzisionsbehandlung bei Krebs, zur Qualitätssicherung in der ambulanten Versorgung und zu digitalen Unterstützungsangeboten von Patienten und ihren Angehörigen. Der Experte Gerhard Schillinger sieht klaren Handlungsbedarf:

„Wir haben in Deutschland hochqualifizierte Ärzte, Humangenetiker, Zentren für seltene Erkrankungen und Kliniken, die Menschen mit seltenen Erkrankungen zur Verfügung stehen. Dennoch gibt es Patienten, denen auch mit diesen Angeboten noch nicht geholfen werden kann. Für sie brauchen wir besondere, forschungsnahe Strukturen für Diagnostik und Therapieentscheidung.“

Die gesetzliche Krankenversicherung ist ein zentrales Element in der Versorgung. Ihre Aufgabe ist es, die Gesundheit von Versicherten zu erhalten, im Krankheitsfall wiederherzustellen und den Gesundheitszustand der Versicherten zu verbessern. In den letzten Jahren wurde viel für die Versorgung der Patienten mit chronischen Erkrankungen, insbesondere mit den großen Volksleiden, koronarer Herzerkrankung, Asthma und den häufigen Krebserkrankungen, getan. Doch wie kann auch die Versorgung von Patienten mit seltenen Krankheiten verbessert werden?

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Kernbotschaften

aus dem Interview mit
Dr. Gerhard Schillinger

Lücken in der Versorgung von Patienten mit seltenen Krankheiten

Bei einem Teil der Patienten mit Verdacht auf seltene Krankheiten bleibt das Problem ungelöst. Dann erfolgen oftmals Untersuchungen, Krankenhausaufenthalte und Behandlungen, die keinen Nutzen haben, aber für die Patienten belastend sind. Für diese besonderen Fälle braucht es eine zusätzliche besondere Versorgung mit erfahrenen interdisziplinären Fallkonferenzen, weitergehenden genetischen Untersuchungen, die wissenschaftliche interdisziplinäre Einordnung der Befunde und richtige Therapieentscheidungen. Eine solche Strukturierung der Versorgung wurde im Innovationsfondsprojekt TRANSLATE NAMSE erfolgreich erprobt. Sie wird jetzt kassenartenübergreifend verstetigt und ausgerollt.

Translationale Forschung

Solche komplexen Fälle sollten in forschungsnahen Einrichtungen gelöst werden. Dort können Patienten sicher sein, dass die Expertenteams den neuesten Stand der Forschung kennen und auch Krankheiten erkennen, die erst seit kurzem bekannt sind oder nur wenige Male weltweit aufgetreten sind. Dort kennt man auch den aktuellen Stand der Therapiemöglichkeiten und kann Patienten, für die es noch keine Behandlungsoption gibt, gegebenenfalls in geeignete Studien einschließen. Die Erkenntnisse aus Diagnostik und Therapie fließen in forschungsnahen Einrichtungen wieder direkt in die Erforschung der seltenen Erkrankungen ein. Und hier werden auch die Experten ausgebildet, die wir für die Behandlung der seltenen Erkrankungen dringend brauchen.

Zukunft der Versorgung

Eine strukturierte Versorgung in hochqualifizierten und forschungsnahen Zentren in Verbindung mit den Möglichkeiten der Exom- und Genomseqenzierung kann die Versorgung der Zukunft für Patienten mit schwer diagnostizierbaren seltenen Erkrankungen sein. Eine ungezielte Genomsequenzierung aller Menschen, zum Beispiel in einem Neugeborenenscreening, würde hingegen zu vielen unklaren Befunden führen. Das könnte schwerwiegende falsche Entscheidungen zur Folge haben. Auch ungerechtfertigte oder unterlassene Behandlungen oder die Entscheidung von Eltern gegen weitere Kinder wegen vermeintlicher Erbkrankheiten könnten die Folge sein. Daher setzt der Gemeinsame Bundesausschuss für die Einführung von Screening-Untersuchungen den Nachweis des Nutzens voraus.

Modellvorhaben

Das durch die Politik beschlossene Modellvorhaben zur Genomsequenzierung muss nun richtig ausgerichtet werden, damit es für die Betroffenen den erhofften Nutzen erzielen kann und keinen Schaden anrichtet. Wie das erreicht werden kann, hat TRANSLATE NAMSE gezeigt. Auch die strukturierte Umsetzung der Genomsequenzierung in England, Frankreich, Schweden und den Niederlanden kann als Vorbild dienen.